Leserbrief

DGB Deutschen Gewerkschaftsbund Bergstraße kritisiert den Wirtschaftsrat Sektion Bergstraße dafür, dass er mich als Koreferenten zu einem Vortrag eingeladen hat („SE“/„BA“ v. 22.8.2011) und wirft mir dabei Sozialzynismus vor. Es ging um meinen Selbstversuch, mit meiner Familie zwei Monate lang vom dem Anteil des Hartz-IV-Regelsatzes auszukommen, der Transferempfängern („Hartz-IV“) für Nahrungsmittel und Getränke zugestanden wird. In dieser Kritik kommt Franz Beiwinkel, Vorsitzender des DGB Bergstraße, zu dem Schluss, dass der Selbstversuch „nur mal so“ und als „Spaß-Thema“ unternommen wurde.

Das ist mitnichten so – was Franz Beiwinkel auch hätte wissen sollen, aber vielleicht nicht wissen kann, da er bei dem Vortrag nicht anwesend war und vor seiner öffentlichen Meinungsäußerung auch darauf verzichtet hat, sich über die zwei Sätze des „Starkenburger Echos“ bzw. des „Bergsträßer Anzeigers“ hinausgehende Informationen zu beschaffen. Das ist erstaunlich, denn meine E-Mail-Adresse hat Franz Beiwinkel – für Werbung für den DGB oder „Die Grünen“ hat er sie bereits verwendet, leider aber nicht für eine kurze Nachfrage, was es mit dem Selbstversuch wirklich auf sich hat.

Der Selbstversuch war, und so haben es „Echo“ und „Anzeiger“ auch in aller Kürze korrekt dargestellt, Teil einer Recherche von mir als Journalist, die ich als Angestellter für einen mittelständischen Verlag erarbeitet habe. Diese umfangreiche Recherche ist in einen 7-seitigen Magazin-Artikel gemündet, der zum Juli 2011 erschienen ist. Für diesen Artikel wurden von mir persönlich u.a. der höchste Hartz-IV-Richter-Deutschlands, Prof. Peter Udsching, Vorsitzender des Hartz-IV-Senats am Bundessozialgericht in Kassel, und Prof. Ernst-Wolfgang Böckenförde, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, befragt und zitiert. Außerdem kamen Pfarrer Dr. Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland, und Prof. Morris Lehner, Steuerrechts-Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, ausführlich zu Wort. Insgesamt ist das allein meiner Ansicht nach schon eine ausgewogene und umfangreiche Experten-Recherche, wie es für die Zielgruppe der von mir betreuten Zeitschrift erfordert. Ausführlich dargestellt wurde auch die Position des Bundesverfassungsgerichts. Und damit eben nicht nur die Meinung von Experten einfließen kann, sondern durchaus ein Stück persönliche Erfahrung, wurde der Selbstversuch unternommen – Realitätsnähe statt Theorie. Franz Beiwinkel hofft in seiner Stellungnahme, dass „die Erfahrungen ausgewertet“ würden – das wurden sie, wie oben beschrieben durch den Artikel, aber eben auch durch den besagten Vortrag. Und wer sich eingehender für den Selbstversuch interessiert, kann alle wesentlichen Informationen auch unter www.aufkleinerflamme.de abrufen.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem von mir zitierten Urteil, das Grundlage des Artikels war, nicht nur die Politik aufgefordert, Transparenz über den materiellen Bedarf all derer herzustellen, die sich und ihre Familie nicht aus eigener Kraft ernähren können. Das höchste Gericht Deutschlands, eine unsere wichtigsten rechtsstaatlichen Organe, hat damit ausdrücklich auch eine gesellschaftliche Debatte hervorrufen wollen, die Grundlage aller wichtigen Gesetzeswerke in einer Demokratie sein sollte.

Ich habe bislang gehofft, dass Entscheidungen aus Karlsruhe auch Richtschnur für den DGB an der Bergstraße sind. Wenn Franz Beiwinkel allerdings der Auffassung ist, an der vom Verfassungsgericht geforderten Debatte dürften sich nur Transferempfänger, nicht jedoch Steuerzahler (die die andere Seite des Transfers) oder gar Journalisten beteiligen (oder vielleicht auch: Mitglieder anderer Parteien als der Grünen?), wirft das kein gutes Licht auf seine Vorstellung von der Meinungsbildung in einer demokratischen Gesellschaft. Dass Franz Beiwinkel anderen Organisationen wie dem Wirtschaftsrat vorschreiben möchte, wer sich über welche Themen äußern darf, zeigt eine bedenkliche Einstellung zur Meinungs- und Pressefreiheit. Und geradezu erstaunlich ist es, auf welche Weise, mit wie wenig Recherche und Mühe sich der Deutsche Gewerkschaftsbund Bergstraße seine Meinung zusammenstoppelt.

Aus meiner Sicht ist es sehr bedauerlich, dass die selbsternannten Lobbyisten der Transferempfänger (die eigentlich die Vertretung von Arbeitnehmern und Angestellten, wie zum Beispiel von auch von mir, sein sollten) sich so sorgfältiger Informationsbeschaffung, wie ich sie mir selbst zum Maßstab gesetzt habe, nicht unterziehen wollen. Ich freue mich im Rückblick wieder, dass ich genau aus diesem Grund aus meiner Gewerkschaft ausgetreten bin – weil sie ohne ausreichende Informationsgrundlage sich um Sachen kümmert, mit der sie von Gesellschaft und Mitgliedern nicht beauftragt wurden (reiner Transfer-Lobbyismus, der meiner Ansicht nach die komplexe Art der Hilfe, die die Bekämpfung der Armut in Deutschland erfordert, in seiner Schlichtheit sträflich vernachlässigt), statt ihren wichtigen gesellschaftlichen Job zu machen (Arbeitnehmerinteressen vertreten – eigentlich eine komplex genuge Aufgabe). Ich jedenfalls danke dem Wirtschaftsrat, und seinem Sektionsvorsitzenden Bergstraße, dem Heppenheimer Unternehmer Dr. Brian Fera, für seine Einladung und für die überaus spannenden, ausgewogenen Diskussionen zu diesem wichtigen Thema, die mir gezeigt hat, dass viele Unternehmer in Deutschland sich ihrer hohen Verantwortung für unsere Gesellschaft als Ganzes bewusst sind und aktiv und empathisch an ihrer Gestaltung mitwirken wollen.

Das Thema Hartz IV betrifft alle Gesellschaftsschichten in Deutschland – nicht etwa nur Transferempfänger: Sie geht auch alle die an, die mit ihren Steuern diese Sozialleistungen bezahlen (wie ich), und vor allem auch all diejenigen, die das Glück haben, nicht betroffen zu sein, aber in Gefahr sind, im Falle eines Jobverlusts Hartz-IV beziehen zu müssen – also jeder normale Angestellte (wieder: wie ich). Sie geht auch Unternehmer an, die vom Wirtschaftsrat angesprochen wurden, und die in besagter Veranstaltung aufgefordert wurden, ihren Teil dazu beizutragen, von Hartz-IV Betroffene wieder ins Arbeitsleben zu integrieren. Weniger betroffen sind davon in der Tat unkündbare Lehrer – wie Franz Beiwinkel. Um auch den DGB auf ein höheres Informationsniveau in dieser Frage zu bringen, bin ich dennoch jederzeit gerne bereit, mit Franz Beiwinkel, sei es als DGB-Vorsitzender, als Magistratsmitglied oder als Mitglied des GLH-Vorstands, eine intensive Debatte über die Hartz-IV-Problematik zu führen – auch wenn er in dieser Frage definitiv „kein echter Betroffener ist“, um ihn selbst aus seinem Angriff gegen mich zu zitieren. Sollte er zu diesem Thema mehr Informationen benötigen, als ihm offenbar derzeit vorliegen, unterstütze ich ihn gerne mit fundiertem Material zum Thema „Hartz IV“.

Dieser Leserbrief wurde in dieser ungekürzten Fassung der Redaktion des "Starkenburger Echo" zugesendet und am 25.8.2011 (leicht, aber sensibel und sinnwahrend gekürzt) abgedruckt.